Sind Tote schutzlos?

Sind Tote schutzlos?

nach Irina Schostakowitsch

 

Im August 2000 jährt sich der Todestag Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitschs zum 25. Mal. In diesen Jahren, ohne ihn,lebte seine Musik in zunehmendem Maße weiter: Der Kreis ihrer Verehrer wuchs, sie eroberte die Herzen vieler Menschen in zahlreichen Ländern. Heute nehmen neue, junge Interpreten den Platz der verstorbenen Zeitgenossen Schostakowitschs ein und dienen seiner Musik mit ihrer Kunst.

Seit seiner Jugend war Dmitri Dmitrijewitsch in Musikerkreisen beliebt und anerkannt. Hier bemühte man sich, ihn in seinen schwersten Tagen vor seinen Verfolgern abzuschotten und zu schützen; sogar als dies gefährlich war und die Kräfte ungleich verteilt waren. In Bedrängnis geratene und eingeschüchterte Menschen verteidigten in seiner Person seine Menschenwürde, sein Recht auf Schaffen. Wenige entschlossen sich, offen aufzutreten, die Mehrheit der Musiker begenete jedoch den Hetzrufen und Aufwiegelungen mit beharrlicher Teilnahmslosigkeit. Natürlich gab es fanatische Verfolger, diensteifrige und nicht uneigennützige, es gab auch Denunzianten aus Berufung und einfach nur beeinflußte, unklûge Menschen.

Dmitri Dmitrijewitsch war schutzlos – wie jeder von uns – und er hatte etwas zu verlieren: Hinter ihm stand das Schicksal seiner Werke, mit denen rücksichtslos abgerechnet wurde, das Schicksal seiner Begabung, die ihm zugefallen war, die er höher als sich selbst stellte und sein Leben lang redlich und inbrünstig abarbeitete, wobei er seine Verfolger abschüttelte und sie verwirrte. Er verstand es, vielen zu helfen, viele hat er geschützt und unterstützt – sie gedenken seiner mit Dankbarkeit.

Doch nicht alle. Es gibt solche, die ihre Kränkung verbargen und bis zum heutigen Tage beleidigt sind, dass er sie nicht befördert, ihnen keine Stelle verschafft hat, obwohl er es – so schien es – gekônnt hätte…

Es gibt solche, die sich für keineswegs schlechter halten, nur – so sagen sie – sei er gewand und gerissen gewesen, ein Geschäftemacher, während sie reine, hilflose Talente waren; er habe sie allein durch die Tatsache seiner Existenz daran gehindert, sich durchzuschlagen.

Andere, gesunde, junge Menschen mit fortschrittlichen Ansichten (die übrigens jetzt schon veraltet sind) wollten Dmitri Dmitrijewitsch dazu drängen, nach vorne zu gehen und öffentlich das sagen, wovor sie selber Angst hatten, es auszusprechen, während sie hinter seinem Rücken ein hehres Ziel verfolgten.

Jeder, der das sowjetische Leben kannte, hat etwas darüber zu erzählen, doch muss man den Mut aufbringen, für seine eigenen Überzeugungen einzutreten und sich nicht von anderen die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen; man muss die Kühnheit besitzen, selber nach vorne zu gehen und nicht jemand anderes als lebendes Schutzschild vor sich her zu stoßen.

Und kaum war Dmitri Dmitrijewitsch gestorben , beschlossen sie auch schon, dass alles erlaubt sei, dass die Stunde gekommen sei, seinen Namen zu benutzen und sich hervor zu tun, auch wenn dabei sein Andenken entwürdigt und verletzt würde. Die Zeiten sind besser geworden, und sie haben ihre Stimme wieder gefunden. Tote sind schutzlos …

Man kann sich daran erinnern, was war und was nicht war, man kann sein Ansehen manipulieren und in seinem Namen etwas verkünden. Dabei kann man jemanden mit Schmutz überschütten und mit ihm abrechnen, man kann sich seine Gedanken aneignen und sie als die eigenen ausgeben.

Und wenn man die glaubwürdigen und unglaubwürdigen Erinnerungen älter gewordener Zeitgenossen sammelt und sie zerschnippelt, so kann man daraus ein beliebiges Bild zusammenkleben und „dokumentarisch“ nachweisen, dass Schostakowitsch ein Stümper war, gewand und gerissen, ein Meister des Kompromisses, schwach und unehrlich. Aber es geht auch umgekehrt.

Sie haben ihn in ein Schlachtfeld verwandelt. Alles und jedes in ihrem trüben Strudel hineinziehend, schimpfen sie im Internet, drucken Aufsätze und schreiben Bücher, komponieren Stücke über Schostakowitsch; sogar eine Oper ist erschienen. Sie alle reklamieren – und können es doch nicht – ein Recht auf Eigentum an ihm. Was für einen Unterschied macht es da, ob sie aus der Position der Parteiideologie heraus verkündigen oder unter der Flagge der Avantgarde auftreten? Rechte und Linke finden letzten Endes zusammen.

Unter ihnen sind auch seine begabten, jedoch erfolglos gebliebenen Schüler, neidische Kollegen sowie Musikwissenschaftler mitgerissen vor allem vom Gerede und den Streitigkeiten. Sie kennen und verstehen schon nicht mehr die längst hinfällig gewordenen historischen Gegebenheiten und genieren sich nicht, eine irgendwo von irgend jemandem aufgeschnappte Schmähung oder Lüge als allgemein bekannte Fakten zu wiederholen. Natürlich – die Musik Schostakowitschs kann jeder auf seine Weise beurteilen, sie im Rahmen seiner Möglichkeiten verstehen. Jedoch der Traum des Mopses, zu den großen Raufbolden zu gehören, indem er mit Beleidigungen angreift, ist unerfüllbar. Das ist lediglich das Sujet einer bekannten Fabel.

Ich wage zu behaupten, dass die Menschen, die kein Gefühl für Sittlichkeit haben, die keinen moralischen Anstand haben, der den Kern aller zwischenmenschlichen Beziehungen ist, niemals Dmitri Dmitrijewitsch und seine Musik verstehen werden. Fördere von dir zuerst selbst Rechenschaft, bevor du einen anderen anklagst: Wie wirst du einen Schlag in einer für dich schweren Stunde verkraften?

Es ist tröstlich, dass niemand Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch jemals mehr Kummer und Schmerzen bereiten kann, und dass die Zeit unvermeidlich jeden an seinen Platz stellt.

Gestatten Sie mir zwei Erwâhnungen:

In Interviews werde ich häufig nach der Glaubwürdigkeit des Buches von Solomon Wolkow gefragt, das dieser als die von ihm aufgezeichneten Memoiren Schostakowitschs herausgegeben hat. Hier nun meine Aussage, das, was mir in dieser Angelegenheit bekannt war:

Wolkow war Mitarbeiter in der Redaktion der Zeitschrift „Sowjetskaja musyka“, zu deren Redaktionskollegium D. D. Schostakowitsch gehörte. Auf Bitten seines Schülers und Kollegen B. I. Tischtschenko, willigte Schostakowitsch ein, Solomon Wolkow, den er nur flüchtig kannte, zu Gesprächen zu empfangen, die in der Zeitschrift „Sowjetskaja musyka“ veröffentlicht werden sollten. Drei solcher Gespräche haben stattgefunden, jedes 2 bis 2 1/2 Stunden lang, nicht mehr.Zu einem längeren Kontakt hatte Dmitri Dmitrijewitsch keine Lust, und er verlor das Interesse an seinem Gesprächspartner. Zwei der Gespräche fanden im Beisein von B. I. Tischtschenko statt. Ein Tonbandgerät gab es dabei nicht, und stenographieren konnte Wolkow nicht. Beim zweiten Treffen hatte Wolkow (dessen Frau eine professionelle Fotografin war und regelmäßig Wolkow mit allen Leuten zusammen fotografierte, die ihm für seine Zukunft nützlich erschienen) einen Fotoapparat dabei und bat B. I. Tischtschenko und danach mich, Erinnerungsfotos zu machen. Zum dritten Treffen brachte er das fertige Foto mit und bat Dmitri Dmitrijewitsch, es zu beschriften. Bei der Verabschiedung schrieb Dmitri Dmitrijewitsch den üblichen Text: „Dem lieben Solomon Moissejewitsch Wolkow zur guten Erinnerung. D. Schostakowitsch. 16.11.74″. Danach gab er es Wolkow zurück und fügte noch – als sei er unzufrieden damit – (wie Wolkow sich selbst erinnert), hinzu: „Zur Erinnerung an die Gespräche über Glasunow, Soschtschenko und Meyerhold. D.SCH.“

Dies ist eine Auflistung derjenigen Themen, über die es bei den Treffen mit Wolkow ging. Aus dieser Auflistung folgt, dass sie Gespräche über das musikalische und literarische Leben im Vorkriegs-Leningrad führten – mehr nicht. Nach einiger Zeit brachte Wolkow Dmitri Dmitrijewitsch eine getippte Niederschrift der Gespräche mit und bat ihn, jede Seite unten zu unterschreiben. Es war ein kleiner, ganz dünner Stapel Blätter, und Dmitri Dmitrijewitsch, der zurecht annahm, er würde das Material bestimmt noch zur Korrektur sehen, hat es nicht gelesen. Ich kam genau in dem Moment in sein Arbeitszimmer, als er – am Tisch stehend – ohne sich hinzusetzen und ohne zu lesen, diese Seiten unterschrieb. Wolkow steckte das Material ein und ging fort. Ich fragte Dmitri Dmitrijewitsch, warum er unten auf jeder Seite unterschrieben habe, was doch unüblich sei, und Dmitri Dmitrijewitsch antwortete, Wolkow habe ihm gesagt, dass neue Zensurregeln eingeführt worden seien und dass ohne seine Unterschrift Wolkows Material nicht von der Redaktion angenommen würde. Offenbar hatte Wolkow, der gerade zu dieser Zeit seinen Ausreiseantrag stellte, schon jetzt die Absicht, dieses Material für seinen ersten Schritt im Ausland zu benutzen.

Bald darauf starb Dmitri Dmitrijewitsch, und die Pläne Wolkows weiteten sich aus. Von der Existenz dieser Aufzeichnungen wussten, laut Wolkow, viele. Er rühmte sich mit seinen journalistischen Glück. Das drohte jedoch, seine Ausreise zu erschweren und er bekam es mit der Angst. Er erreichte es, von Enrico Berlinguer, dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens, als er in Moskau war, empfangen zu werden. Er zeigte ihm das von Schostakowitsch beschriftete Foto und beschwerte sich darüber, dass man ihn, Wolkow, aus politischen Gründen aufhalten würde. In der Zeitung der italienischen Kommunistischen Partei „La Stampa“ erschien ein Artikel über Wolkow mit diesem Foto. Der Hebel funktionierte. Als ich Wolkow in einem Konzert traf, bat ich ihn vorbeizukommen (ohne Frau, wie er es wollte) und mir eine Kopie des bei ihm vorhandenen, nicht autorisierten Materials (denn Dmitri Dmitrijewitsch hatte es nicht gelesen) zu überlassen. Er sagte, dass das Material von ihm schon ins Ausland geschafft worden sei und dass es, falls man ihn, Wolkow, aufhalten wird, publiziert würde – und zwar mit Hinzufügungen. Bald darauf fuhr er fort, und ich habe ihn nie wieder gesehen.

Die Hinzufügungen ließen nicht lange auf sich warten. Nach Aussage von Freunden aus Wien, hatte er das Buch dort geschrieben, während er auf die Einreiseerlaubnis in die U.S.A. wartete. Dann begann er einen Verleger zu suchen, wobei er sich wegen der Protektion an einflussreiche Musiker wandte. Seinen Schreiben fügte er jenes Foto mit Schostakowitsch bzw. Fotos dieser bekannten Musiker mit Wolkow bei, die diese seinerzeit auf seine Bitte hin unbedacht signiert hatten. Doch nicht jeder konnte sich an ihn erinnern.

Dann las ich in einem eingeschobenen Absatz im Schallplatten-booklet zur Aufnahme der Oper „Lady Macbeth von Mzensk“, die M. Rostropowitsch geleitet hatte und die im Ausland erschienen war, dass Wolkow Schostakowitschs Assistent gewesen sei, und später berichtete Wolkow im Vorwort zu seinem Buch, dass Schostakowitsch ihn, als niemand zuhause war, angerufen habe, und sie sich heimlich getroffen hätten. Eine üppige Phantasie, jedoch verlogen, zumal Dmitri Dmitrijewitsch in diesen Jahren schwer krank war und wir ihn niemals alleine ließen. Außerdem lebten wir hauptsächlich außerhalb Moskaus auf der Datscha. Und vor wem oder was hätte verheimlicht werden müssen? Der Name Wolkow kommt in den Briefen Schostakowitschs aus dieser Zeit, z.B. in denen an Glikman, überhaupt nicht vor.

Ein Verleger fand sich in den U.S.A., und die Werbekampagne begann. Auszüge aus dem Buch erschienen in einer deutschen Zeitschrift und erreichten Russland, wo zu der Zeit ein staatliches Monopol auf Produkte geistiger Arbeit herrschte. Die VAAP (Autorengesellschaft) forderte eine Expertise der Unterschrift Schostakowitschs an. Amerikanische Experten bestätigten die Echtheit. Das Buch wurde gedruckt. Jedem Kapitel dieses Buches ging eine Aufschrift von der Hand Dmitri Dmitrijewitschs voraus: „Gelesen, Schostakowitsch“. Ich weiß genau, dass Schostakowitsch immer auf diese Weise die Aufsätze verschiedener Autoren unterschrieben hat, die zur Publikation vorgesehen waren und die ihm regelmäßig von der Zeitschrift „Sowjetskaja musyka“ zur Durchsicht geschickt wurden. Danach ging das Material zurück in die Redaktion, wo Wolkow arbeitete. Leider konnten die amerikanischen Experten, die der Russischen Sprache nicht mächtig waren, (diese Aufgabe wurde auch gar nicht gestellt), die Aufschrift Schostakowitschs und die Bedeutung des auf der Seite gedruckten Textes, der in keinerlei Bezug zu dem Buch Wolkows stand, in ein Verhältnis zueinander bringen. Ich denke, dass diese Vermutung richtig ist – umso mehr als eine derartige Aufschrift des Autors auf seinem Material für Kenner der russischen Sprache einigermaßen seltsam klingt.

Was die Hinzufügungen betrifft, so sagte Wolkow mir selbst, dass er sich viel mit verschiedenen Leuten über Schostakowitsch unterhalten habe, insbesondere mit L. N. Lebedinski, einem späteren gewissenlosen Memoirenschreiber, zu dem Schostakowitsch schon lange vorher jegliche Beziehungen abgebrochen hatte. Wolkow wurde – auf seine Bitte hin – empfangen von einem Freund Schostakowitschs, dem Kinoregisseur L. O. Arnschtam – er selbst erzählte mir mit Bedauern davon. Die Geschichte über ein Telefongespräch mit Stalin stammt von ihm. All dies fand Eingang in das Buch – und zwar in der Form, wie Solomon Wolkow es – im Namen Schostakowitschs – aufgefasst und sich selbst zurecht gelegt hatte.

Das Buch wurde in viele Sprachen übersetzt und in vielen Ländern gedruckt – nur nicht in Russland. Anfangs sagte Wolkow, dass die amerikanischen Herausgeber gegen eine russische Ausgabe seien, dann sagte er, dass man ihm in Russland nicht genügend Honorar anbiete, danach dass diejenigen, die eine Ausgabe in Russland vorschlügen, betrügerische Kaufleute seien und schließlich, dass er sein Manuskript an ein privates Archiv verkauft habe und es nun nicht mehr zugänglich sei. Eine Rückübersetzung sei verantwortungslos und verheiße neue Möglichkeiten.

Und noch etwas. Dmitri Dmitrijewitsch wird vorgeworfen, seine Unterschrift unter einen Brief Intellektueller gegen den Akademiker A. D. Sacharow gesetzt zu haben, der in der „Prawda“ veröffentlicht wurde. Ja, unter den Unterschriften in der Zeitung ist auch der Name Schostakowitschs, doch diesen Brief hat er nicht unterschrieben. An diesem Tag antwortete ich auf die häufigen Anrufe aus der „Prawda“ während der ersten Tageshälfte, dass Dmitri Dmitrijewisch nicht zuhause sei, dann, dass er auf der Datscha sei, und als sie sagten, dass sie jetzt ein Auto auf die Datscha schicken würden, sind wir einfach von zuhause weggefahren – bis zum Abend, bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Zeitung schon in Druck herausgegangen war. Nichtsdestoweniger befand sich der Name Schostakowitschs unter den Unterzeichnern. Vor nicht allzu langer Zeit versuchten wir, das Original dieses Briefes zu sehen, doch bei der „Prawda“ erteilte man uns eine Absage, allerdings zugebend, dass es „solche Praktiken“ zu der Zeit gegeben habe. Das wusste ich auch so. Genauso verhielt es sich mit der Unterschrift unter einen Brief zum Schutz von M. Theodorakis – Dmitri Dmitrijewitsch war zu dieser Zeit im Krankenhaus. Rückwirkend, die Unterschrift anzufechten, war völlig sinnlos.

 

Irina Schostakowitsch

Moskau, Juni 2000

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